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10 Jahre Erfahrungen mit dem KB5
Nahrada Interview
 
Skype, 1.12.2017: Gespräch von Franz Nahrada und Helmut Leitner; nachbearbeitet. ˧

Inhaltsverzeichnis dieser Seite
Theorie und Praxis   
Methode und Highlights   
Village Innovation Talks   
Wildalpen   
Auf dem Weg zur DorfUni   
Ein Ausblick auf Globale Dörfer   
Näheres zu Zukunfts - Lernorten   
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Theorie und Praxis    

Helmut Leitner: Lieber Franz, ich möchte unser Gespräch mit einer ganz einfachen Frage beginnen: Was bedeutet eigentlich das Projekt KB5 für dich, im Rückblick betrachtet? ˧

Franz Nahrada: Ja, also, es ist für mich das einzige Mal einer der raren Momente in meinem Leben, wo ich das Gefühl gehabt habe, meine Theorie trifft auf eine bereitwillig kooperierende Realität. Vielleicht muss ich da ein wenig zurückgehen in der Zeit. Also, das heißt, ich habe ja die Ansicht vertreten, dass seit ich damals dieses Gespräch im Jahr 1990 mit Douglas Engelbart hatte. ˧

[Ergänzung] Viele Jahre zuvor, im Jahr 1990, hatte ich in Stanford ein Gespräch mit dem Computerwissenschafter Douglas Engelbart. Was ich am wenigsten erwartet hätte, war, dass mir dieses Gespräch den Mut und die Richtung geben würde, auch gegen alle akademischen Gepflogenheiten ein neues Konzept von Wissenschaft zu verfolgen. ˧

Du weißt ja, ich war schon seit vielen Jahren im Clinch mit der akademischen Wissenschaft gewesen, weil sie sich in meiner Wahrnehmung nicht wirklich bei der Lösung sozialer Probleme engagierte oder auch nur als nützlich erwies. Die Soziologie, meine Heimatdisziplin, war mir verhasst geworden, weil sie zwischen empiristischer Fliegenbeinzählerei und spekulativer Verrätselung von Alltagstatsachen hin und her schwankte, kaum Wissenswertes zutage förderte und sich auf ihre Banalitäten unendlich viel einbildete. Viele Jahre habe ich nur mehr in der Kritik dieser Wissenschaft und nicht in ihrem Betreiben einen Sinn gesehen. Sehr viel stärker hat mich damals die Computerwissenschaft beeindruckt, weil man mit Händen greifen konnte, dass ihre Fortschritte zu einer wirklichen technischen Revolution führten. Und rasch fand ich heraus, dass vieles was wir in diesen Jahren als diese Revolution erleben, sie es jetzt das grafische Benutzerinterface, sei es das assoziative menschgemäße Verknüpfen von Information (Hypertext), sie es das simultane Darstellen verschiedener Perspektiven in Fenstern, sei es das Eingabegerät Maus, dass das alles bei einem Mann zusammenlief, der schon mehr als 20 Jahre zuvor seine Ideen entzickelt hatte und auch publikumswirksam dargestellt hatte. Und dieser Mann, Douglas Engelbart, begrüßte mich, den frischgefangten "Apple - Afficionado", als Soziologen. Er zeigte mir in seinem Büro in der Uni Stanford die erste Computermaus der Geschichte (die Fünffingermaus) die er gebaut hatte und einiges mehr, und er begann mir zu erzählen, wie wenig Positives der technische Fortschritt in Vergleich zu dem von ihm visionierten Möglichkeiten gebracht hatte. Und er gab mir in den nächsten Stunden eine eindeutige Botschaft mit: nicht nur die neue Technik muss in einem mühsamen Prozess entwickelt werden, von Versuch, Experiment und Irrtum, sondern auch die neue, sich aus den technischen Möglichkeiten ergebende Gesellschaft. Wer glaubt darauf verzichten zu können, riskiert, dass die Technik Probleme verschlimmert statt sie beheben zu helfen. Und wer sollte sich mit der neuen Gesellschaft beschäftigen, wenn nicht engagierte SoziologInnen, die aber nicht mehr Gesellschaft von oben beforschen, sondern mittendrin stehen in einer experimentellen Situation, in der Technik nur eine Komponente ist eines viel umfassenderen Wandels - und der Soziologe der Moderator einer Gemeinschaft von Menschen und Institutionen ist, die aus möglichst verschiedenen Perspektiven diesen Wandel wollen. ˧

An diesem Tag wurde der Keim gelegt für mein künftiges Leben als Forscher und Zukunftsgestalter. Und das KB5 war für mich, so unvollkommen wie auch immer, die Umsetzung der Engelbartschen Idee. ˧

[Ergänzung] Natürlich lagen viele Zwischenetappen am Weg, zunächst schloss ich mich 1992 dem Zentrum für Soziale Innovation in Wien an, die von meiner “Labor” Idee zunächst sehr begeistert waren. Dann gab es die Global Village Veranstaltungen, von 1993 bis 1997, 1998 war dann klar dass das ZSI in eine viel zu traditionelle Richtung gegangen war, sodass ich meinen eigenen Forschungsverein gründen musste. Ich wollte zeigen, dass eine Art soziale Innovationsforschung als praktisches Experiment in – sagen wir mal – relativ überschaubaren Dimensionen wahrscheinlich eine der wichtigsten Wissensquellen für technische und soziale Innovationen ist. Und damit auch für die Frage, wie wir gesellschaftliche Probleme bewältigen. Das heißt, die Theorie ist, dass sich der Wissenschaftler sozusagen auf die Suche macht oder gefunden wird von Menschen, die ein praktisches Anliegen haben, und dass die miteinander eine Art Projektgruppe bilden, eine Art Community – Bootstrap Community nennt das Douglas Engelbart – und dass sie gar nicht mehr so sehr einzelne Rollen einnehmen, sondern einen Dialog und einen Versuchs - Irrtums - Prozess miteinander beginnen. ˧

HL: ... halt, da muss ich dir kurz ins Wort fallen, damit du dein Licht nicht zu sehr unter den Scheffel stellst. Denn ich sehe so viele Projekte, die von dir befruchtet und Menschen, die von deinen Ideen inspriert wurden und werden. Aber ich kann dir schon zustimmen, dass es im KB5 eine besonders positive Aunahmeerscheinung war, weil man den Eindruck haben konnte, dass sich ein ganzes Dorf in Bewegung setzt ... ˧

FN: Ja, und weil es hier eine Gruppe von Akteuren gab oder gibt, die zu einer langfristigen strategischen Zusammenarbeit bereit waren. D. h. wir haben gesagt, wir entwickeln jetzt über Jahre – eigentlich haben wir von Jahrzehnten geträumt – das, was im Zentrum der Theorie des Globalen Dorfes steht, diesen Lernort, der die praktischen Probleme die an einem Ort auftreten mit dem Wissen der Welt, dem Wissen der Zeit verbindet und auf diese Art und Weise eine völlig neue Dimension der Dorferneuerung schafft. ˧

HL: Und das hat ja unglaublich gut funktioniert, mit den "Tagen der Utopie", mit der "Montagsakademie", mit der "Bioversität", mit "Religion am Donnerstag", mit der "Langen Nacht der Sprachen". Jetzt, wo ich an der Dokumentation des KB5 arbeite, sehe ich noch deutlicher, wieviel da gelungen ist, und wie kontinuierlich diese Entwicklung auch war. Also, zumindest im Bereich der Veranstaltungen und mit der Idee die Universität ins Dorf zu bringen, war das KB5, diese 10 Jahre KB5, ja ein voller Erfolg. ˧

FN: Ahhem, nein, von vollem Erfolg kann man nicht sprechen – es war ein Lernfeld. Voller Erfolg wäre dann, wenn daraus ein lebensfähiges Muster geworden wäre, das sich bewährt hätte, so quasi evolutionär bewährt hätte und darüber sollten wir heute reden. Was zumindest rausgekommen ist, ist eine nachhaltig sichtbare Eröffnung eines Versuchsraumes, den so in dieser Form noch niemand eröffnet hat. Was fehlt, darüber kann man jetzt eine Stunde lang reden. ˧

HL: Na wunderbar, dann haben wir einen Rahmen abgesteckt. Das würde mich zur nächste Frage bringen, fast geometrisch abgezirkelt: Was ist da gelungen und was ist nicht gelungen? ... Oder, anders ausgedrückt: Hat auch die Theorie dazugelernt, waren theoretischen Ansätze unter Umständen noch nicht ganz ausgereift; oder waren es Probleme der Umsetzung einer an sich perfekten Theorie, die aber in den Mühen der Ebene gestrandet ist. ˧

FN: Ok. Zuerst zur letzten Frage. Diese Trennung von Theorie und Umsetzung, die würde ich so nicht gelten lassen. Eine gute Theorie hat den Durchgriff bis hin zu allen hemmenden Faktoren. Es kann keine gute Theorie geben, die nicht Umsetzungsrezepte parat hätte. Wenn Theorie den Anspruch erhebt, relevant zu sein für Handlung, dann verwandelt sie sich automatisch in eine Art Ingenieurskunst oder Navigationskunst durch die praktischen Probleme. Man sollte meinen, dass der Mensch nachdenkt, weil er mit seinen gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen und Reaktionen ansteht, weil er Wissen über die Sachen braucht, weil er praktisch erfährt dass ohne Wissen sein Handeln scheitert. Das ist leider in der Welt der Theoretiker und Denker nicht selbstverständlich, wir haben ja seit ewig eine Trennung zwischen Denkern und Machern, zwischen Theorie und Praxis, und auch die Theoretiker haben sich ganz gut in dieser Situation eingerichtet. Sie geben dann Ratschläge, stellen Prognosen auf, bauen Modelle, suchen originelle Aspekte, leben in einer Welt für sich, die sich des Eingriffes in die Praxis enthält. Dafür werden sie dann auch bezahlt und wird ihnen ihr Elfenbeinturm erhalten, Weil auch die Macher dieser Welt nicht ohne einen Schein von Begründung auskommen wollen. Aber das ist alles insgesamt kein gesundes Verhältnis, darauf hat ja auch Doug Engelbart hingewiesen. Wir brauchen Wissen, das diesen ursprünglichen Bezug zur Praxis wiederentdeckt. ˧

Deswegen ja auch meine - aber eben nicht nur meine - wachsenden Begeisterung für die Mustertheorie von Christopher Alexander als Theorieform, die am Anfang so nicht da war. Das ist vielleicht auch ein Lernprozess, dass wir (ich meine jetzt unsere Kirchbach - Community) viel zu wenig auf die Theorie geschaut haben und viel zu wenig reflektiert haben. Aber wie gesagt, das ist nicht so zu trennen, dass die Theorie perfekt wäre und die Umsetzung mangelhaft, oder umgekehrt, sondern die Theorie hat zum Teil die Schwierigkeiten nicht begriffen, nicht aufgearbeitet, nicht kreativ in alternative Handlungsoptionen überführt. Natürlich war auch die Kommunikation zwischen Theoretikern und Praktikern nicht ideal. Die ist aber lebensnotwendig für beide Seiten! Wenn man so will, zeigen sich die Details einer Sache erst im praktischen Handeln, erst im Feld. Das trifft auf die Naturwissenschaften ebenso zu wie auf das Soziale, das Labor kann einen ebenso zum abstrakten Denken verführen, das die mannigfachen Beziehungen und Kollisionen der Welt ausspart, wie die Begriffswelt und das (vereinfachende) Modell. Erst wenn diese Beziehungen erfahren werden, und das werden sie im praktischen Umgang viel eher, dann beginnt auch das Denken zu differenzieren, wesentliches herauszufinden etc. ˧

Die Kirchbacher hatten zum Teil ihre eigenen Theorien und Konzepte, die auch nicht wirklich auf den Tisch zur Diskussion ausgebreitet wurden. Ich erinnere zum Beispile an diese etwas schlampige Verwendung des Terminus "Globales Dorf" am Anfang unserer Zusammenarbeit , wo eigentlich "Globales Dorf" zu einem Marketing - Etikett verkommen ist, weil man gesagt hat "wir sind fünf Globale Dörfer" und in dem Sinn ist aber der Witz verloren gegangen, dass Kirchbach quasi in dieser regionalen Konstellation einsteigt als '''ein Dorf, das sozusagen eine Entwicklung vorwegnimmt, die andere vielleicht erst nach Jahrzehnten machen oder vielleicht nie zu machen brauchen - weil sie diese Leistung in ihrer unmittelbaren Nähe haben'''. ˧

Also,schon beim Begriff des Globalen Dorfes hat es eine Unstimmigkeit gegeben, die aber nicht wirklich behandelt werden konnte, weil gesagt wurde, wieso, das ist doch ein schönes Wort, warum sollen wir es den anderen nicht auch gönnen, wir wollen sie ja nicht diskriminieren. Aber da ist dann dieser Stachel verloren gegangen, weil wenn wir eh schon Globales Dorf sind, warum sollen wir uns da noch anstrengen? Ich hab in meinem Kopf gehabt, dass ich erst dann von einem Globalen Dorf sprechen will, wenn zumindest die Mehrheit der Menschen in einem Dorf ihre Fragen und Probleme quasi mit dem Planeten teilt und auf die Suche nach der bestmöglichen Antwort geht. Und da waren selbst in Kirchbach doch nicht so viele Akteure zugange, die sich dieser Möglichkeit bedient haben. ˧

Methode und Highlights    

HL: Gut, ich nehme mal diese Frage der Umsetzungsprobleme ... es soll ja nicht um Schuldzuweisungen gehen, warum es nicht länger funktioniert hat ... ich nehme das als ein ehrenvolles Mittragen der Probleme auch von dir. Aber, schauen wir mal, was funktioniert hat. Also, das Konzept, moderne Technologie zu verwenden in der Kommunikation und für die Bildung – an diesem Teil des Konzeptes ist ja nichts auszusetzen, das hat ja in vielerlei Hinsicht sehr gut funktioniert, oder siehst du das anders? ˧

FN: Ja, nicht nur das, wir habe ja quasi "on the fly" unsere sozialen Innovationen - die ja beim Engelbart notwendig zur Technik gehören - mit entwickelt. Das heißt z. B. dass es einen mehrstufigen Kommunikationsprozess gibt, wo ein dazwischengeschalteter Moderator die Rolle übernimmt, sozusagen ein für lokales Publikum präsenter Anker zu sein, wie "anchor" im Sinn auch des Fernsehens, und andererseits die Community im Netzwerk sichtbar zu machen, ihre Fragen auszudrücken usw. also, wir haben nicht nur die Technik eingesetzt, sondern wir haben auch zusätzlich zur Technik eine Fülle von Regiemustern oder Mediengrammatik oder Verhaltensweisen hinzugefügt, die ganz wichtig waren, damit sich die Sache wirklich bewährt hat, jetzt einmal unmittelbar als Format. ˧

Du sagst "nichts auszusetzen" – das hat sich ja daran gezeigt, dass die Menschen ja immer wieder gern gekommen sind. Es war ja auch eine perfekte Inszenierung insofern, als dass man nachher in den Keller gegangen ist und weiter geredet hat [Anmerkung: bestens mit regionalen Produkten gastronomisch versorgt] und dass man quasi diese Impulse über was auch immer in das Dorf herein gekommen ist, quasi einem Verdauungsprozess oder Nachwirkungsprozess unterzogen hat. Also, ganz wesentlich ist eigentlich die "Offline - Komponente" dieser Veranstaltung. Und die begann schon während der Veranstaltung, also zum Beispiel in der Abschaltpause nach dem Vortrag, wo die einzelnen Gemeinden sozusagen eine Auszeit zum Reflektieren vor Ort gekriegt haben. Deren Inputs dann in die Diskussion oder Chaträume flossen. ˧

HL: Im Nachhinein fällt mir auf, dass damals - wenn man von den Jahren 2005-2008 spricht –, dass damals die sozialer Medien noch nicht verfügbar waren. Das heißt, die Möglichkeit z. B. auf breiter Basis zum Beispiel Facebook - Gruppen aufzubauen, die das Ganze noch durchbesprechen und mit Materialien die Themen am Köcheln halten, waren damals noch nicht gegeben. Vieles würde natürlich, oder geht natürlich leichter als damals, weil die Technik besser und schneller und billiger ist, als es damals vor 13 oder 10 Jahren war. ˧

FN: Ja, aber wesentlich ist, dass manche Dinge zeitlos funktionieren könnten. Zum Beispiel eben der Umstand, dass man ganz bewusst umschaltet vom "Online - Modus" in den "Offline - Modus" und dass man ganz bewusst sich aus dieser virtuellen Welt verabschiedet und sagt "ja, jetzt sitzen wir da, und was machen wir daraus für uns" und ich glaube dass dies Sachen sind, die in Kirchbach sehr gut geklappt haben und eine gewisse Nachhaltigkeit dieser Sachen bewirkt haben, und auch wenn es bei den Veranstaltungen gute und schlechte gegeben hat, so war doch der Punkt, dass selbst die schlechten – und die schlechteste war sicher "Die Lange Nacht der Sprachen" – immer noch dazu geführt haben, dass die Leute etwas gelernt und für sich mitgenommen haben... ˧

HL: ... und ich wollte gerade die Lange Nacht der Sprachen als den sozio-technologischen Höhepunkt darstellen und herausstreichen! ??? ˧

FN: Das war weder ein sozionoch ein technologischer Höhepunkt. Es war technologisch gesehen ein Desaster weil wir letztlich auf das Mobilfunknetz als Datenverbindung ausweichen mussten. Aber noch viel schlimmer war, dass sich gezeigt hat, gerade an dieser Veranstaltung, dass die Kulturen – die Veranstaltungskultur und die Lernkultur, wenn man so will – der beteiligten Orte derartig verschieden waren, dass die Leute eigentlich ihre Fremdheit und Andersartigkeit zurückgespiegelt bekommen haben. Das heißt, das was sich in der Volkshochschule Brigittenau abgespielt hat und das was sich in Kirchbach abgespielt hat, war jeweils sozusagen eine bestimmte Kultur, die mit der anderen sozusagen gar nicht wirklich Kontakt aufnehmen konnte oder wollte. Im Lauf des Abends sind uns wirklich die Rapports, die Beziehungen zueinander, abhandengekommen. Und man hat wirklich gemerkt, wir versuchen zwar immer wieder da gegenzusteuern und hinein zu kommen, aber die städtische und die ländliche Bevölkerung leben ganz sinnfällig in zwei verschiedenen Welten, Rythmen, Symboliken. Und da haben wir viel zu lernen. Ich glaube nicht, dass wir das schon gebührend reflektiert und aufgearbeitet haben. Vielleicht müssen wir uns das einmal genauer anschauen. ˧

HL: Aber ich sehe das als tolles Ergebnis eines experimentellen Settings. Ich sehe das nicht bei anderen Veranstaltungen. Ich sehe das nicht in der Montagsakademie. Dieses Durchdringen zu dieser harten Realität des Andersseins. Auch nicht in den MOOCS. ˧

FN: Ja, aber diese Realität des Andersseins hat hinter unserem Rücken zugeschlagen. Wir haben sie nicht gemeinsam thematisieren können. Also, wir haben keinen gemeinsamen Lernprozess daraus machen können. Es wäre schön gewesen, wenn wir das hingekriegt hätten. Und das kann man vielleicht für die Zukunft noch einmal versuchen. ˧

Village Innovation Talks    

HL: Ahh, in gewisser Weise könntest du da zu "Village Innovation Talks" etwas erzählen. An denen war ja Kirchbach auch noch beteiligt, allerdings nicht mehr als führender Akteur. Da hatte sich dieses Verfahren schon auf eine andere Stufe entwickelt... ˧

FN: Ja, aber dazu würde ich zuerst gerne die Entstehungsgeschichte dieser Village Innovation Talks ein bisschen reflektieren. Die Village Innovation Talks waren eigentlich auch so etwas wie eine Demonstration, was sein könnte. Es war gedacht als Pilotveranstaltung, wobei gar nicht ein Thema wichtig war, sondern das Feeling der sechs Dörfer, die sehr verschieden sind, und sich miteinander austauschen können. Franz Steinwender hat das mal so ausgedrückt, dass "die Dörfer selber es sind, die einander belehren", dass die Weisheit einmal nicht von den Unis kommt, wie bei Montagsakademie und fast allen anderen Veranstaltungen zuvor. ˧

Positiv war, dass das Setting von allen sehr ernst genommen wurden. Es war toll, dass wir mehrere “lehrende” und “lernende” Dörfer zugleich hatten. Die Pilotveranstaltung war aber nur als Vorgeschmack gedacht, aufwändig inszeniert mit St. Martin - Harmanschlag als Zentrum. ˧

Was die implizite Voraussetzung gewesen ist, die aber nicht eingetroffen ist, dass wir die Mittel bekommen sollten, für jede dieser Thematiken einen eigenen Abend zu gestalten und auch den Kreis der beteiligten Dörfer zu erweitern. Das hat es nicht gespielt, leider und für uns auch überraschend. Der damalige Partner war die Global Knowledge Partnership Foundation, und ich bin heute noch immer verwundert, dass die Zusage nicht eingehalten wurde, letztlich hat sich die Organisation damit auch einen Bärendienst erwiesen, denn wir haben wirklich spannendes Neuland betreten. ˧

Wildalpen    

Die Village Innovation Talks sind für mich eine Konsequenz dessen gewesen, was ich seit 2006 / 2007 gespürt haben: Wenn wir so einen Kommunikationsprozess haben, dann brauchen wir verlässliche Gegenstellen. Wir müssen das Medium verwenden, um Beziehungen zu stiften zwischen Orten, die einander bereichern können. Das ist der ganze Sinn dieser Sache. Und mein scheinbarer Weggang, oder mein Engagement in Wildalpen, das in Kirchbach und auch anderswo von einigen Leuten nicht verstanden und falsch gedeutet wurde, das war der Notwendigkeit geschuldet, dass es keine Videobrücke gibt, wo kein zweiter Pfeiler ist, wo nicht ein anderes Ufer ist, wo nicht sozusagen ein physischer Ort, eine physische Umgebung ist, wo auch glaubhaft sich irgendetwas entwickelt, an dem man Anteil nehmen kann. Das war, seit Wildalpen, immer wieder der Versuch den Kirchbachern zu sagen: Wenn ihr ein Globales Dorf sein wollt, dann seit ihr eigentlich ein Grätzl einer globalen virtuellen Stadt. Ihr seid ein Teil einer großen übergreifenden lernenden Gemeinschaft und das ist eigentlich die Zukunft nicht nur der Dörfer, sondern der Welt. Es gibt ja gefühlt unendlich viele Orte auf der Welt mit ähnlichen Problemen, und die entwickeln sich immer ungleichzeitig. Also können immer die einen von den anderen lernen und umgekehrt. ˧

Auf dem Weg zur DorfUni    

HL: Ich sehe darin ja auch ein ganz anderes Veranstaltungsformat. Waren diese frühen Formate, der Tage der Utopie, der Montagasakademie, Religion am Donnertag ... geprägt von exzellenten Vortragenden und der Vermittlung eines Themas, auch durch lokale Moderatoren, so wie du es beschrieben hast, und dem Verdauen des Gehörten, so verändert sich das jetzt zum Beziehungsaufbau. Die Suche nach den Talenten und Fähigkeiten in den Dörfern, und das sich darüber kennen lernen und austauschen. Die lokalen Akteure kommen in den Mittelpunkt mit dem was sie tun. Ich denke, dass dies auch eine soziale Entdeckung oder Erfindung, die man nicht so ohne weiteres findet im Netz, auch im heutigen Netz ... ˧

FN: Ja, da steht einfach auch der Gedanke Pate, dass das beste akademische Wissen genau das nicht leistet, warum wir diese Geschichte eigentlich initiieren. Es gibt von Anfang an diese doppelte Motivation. Auf der einen Seite Zugang zu Bildung. Das ist natürlich für sich schon eine Sensation, wenn wir sagen: Paah, wir haben echt die Universität im Dorf, und wir übertragen nicht nur von der Universität Graz, sondern wir können uns die besten Universitätskurse, aber nicht nur die besten Universitätskurse, wir können uns Vorträge von Nobelpreisträger von irgendwelchen Festivals, wir können uns total gute Geschichten hereinholen .....aber bei all diesen Dingen stellt sich irgendwann mal dann die Frage der Relevanz. ˧

Es ist sicher richtig und ein Teilerfolg, wenn man einmal sagt, wir brechen das Bildungsmonopol der Stadt und wir haben theoretisch die Möglichkeit, all das an Bildung auch zu uns hereinzubringen, was sonst nur in den Städten zugänglich ist. Das ist sicher ein erster wichtiger Schritt. Aber für mich war dieser Schritt nur der Einstieg in die Reflektion der Rolle des Wissens für die Praxis überhaupt, was ich oben schon angedeutet habe. ˧

Dieses Beziehung herstellen und Talente und Fertigkeiten suchen ist das was Uwe Plachetka immer so scherzhaft die ''"Professores de la Praktica"'' genannt hat, dieses Verbinden von gutem Wissen mit guten Resultaten sprich gelungenen Umsetzung im Leben, und nicht nur mit einem brillianten Vortrag und spannenden Ideen. Und dieser Gedanke stand auch Pate bei den Village Innovation Talks. Das war so quasi die Idee, wir müssen jetzt beginnen, dass wir uns über das akademische System, oder jenseits des akademischen System in eine Welt bewegen, in der es einen sehr viel engeren Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis gibt, weil wir wissensintensive lokale Experiemente für eine Veränderung, für einen Wandel, überall brauchen und kreieren können. Und dass dies die primäre Quelle ist, um das grundlegende fundamentale Problem zu lösen: Wie ist denn Überlebenn im ländlichen Raum möglich? ˧

HL: Ich sehe es aber auch ein bisschen profaner. Im Grunde genommen waren die Village Innovation Talks auch eine Folge von Selbstdarstellungen, von Angeboten an einen Markt, von Auftritten auf einer internationalen Bühne. Das heißt, das ist das was der lokale wirtschaftliche Akteur auch sucht, diese Möglichkeit an den schwierigen Vermarktungsmedien die ihm nicht zur Verfügung stehen, vorbeizugehen, in einer Form von Selbstvermarktung. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt gut ausgedrückt habe, du kannst das sicher besser ausdrücken. Ich denke, dass das KB5 viele soziale Innovationen, bzw. du in deinen Projekten viele soziale Innovationen aufbauend auf diesen technischen Möglichkeiten durchgeführt hast und die Village Innovation Talks sind für mich dann nicht der Endpunkt, sondern ein Pfeil im Köcher, ein bestimmtes Format in einem Repertoire von Möglichkeiten. ˧

FN: Ja, aber auch hier ist die Erwartung der Akteure ein bisschen geschieden von dem, was ich den Akteuren sagen würde. Es ist wieder dieses Problem der Sprachlosigkeit zwischen diesen beiden Welten. Es ist ja richtig, ich habe ja immer wieder versucht z. B. das Thema Handwerk aufzugreifen und dann zu sagen: Wie findet ein ländlicher Tischler eine städtische Kundschaft? Wir haben unlängst im Waldviertel diese ''Smart Country'' Geschichte gestartet. Wo wir zwei Akteure haben. Der eine ist der Tischler, der aus seiner Werkstadt Direktübertragungen macht, teilweise sehr oberflächlich, da geht einfach darum dass er Kabarett macht aus seiner Tischlerwerkstatt um eigentlich die Menschen überhaupt heranzuführen an ein "aha, das ist der Ort wo meine Möbel produziert werden können" und der nächste Schritt ist, man macht mit den Kunden eine Begehung des Holzlagers. Und dann folgen weitere Ideen, den städtischen Markt mit den ländlichen Produzenten zu verbinden, z. B. Urlaub bei den Lavantaler Tischlern usw. ˧

HL: Das hängt dann natürlich sehr stark mit den Möglichkeiten dieses Multifunktionalen Lernzentrums zusammen, was dann dort möglich ist und was nicht möglich ist... ˧

FN: Ich glaube, dass diese Sachen - zunächst - gar nicht so sehr vom multifunktionalen Lernzentrum abhängen, sondern von der Geschicklichkeit, sich medial zu inszenieren, wie du es vorher gesagt hast. Der andere Akteur, der mir einfällt, ist der Bügermeister von St. Martin im Lainsitztal, ein echter Pionier der ländlichen Breitbandvernetzung, der schon mit seinen Leuten Glasfaser eingebuddelt hat als andere noch stolz auf ADSL waren.Zwei Stunden habe ich während meiner letzten Herz - Rehab in Groß Gerungs nach Anwendungsfeldern für die Breitbandtechnologie gesucht. Wir hatten ja schon 2008 einen Workshop dazu. Aber es ist damals wie heute eben nicht leicht gefallen, einen Einstiegspunkt zu finden. Es war wirklich ein sehr quälerisches Gespräch ... bis zu dem Moment wo ich das Wort "Reality - Soap" gebracht hab – da hat sich sein Gesicht plötzlich aufgehellt, und er hat sozusagen ein Erleuchtungserlebnis gehabt und da er hat gesagt: "ja des mach ma, des mach ma, wir machen Reality - Soap vom Bauernhof, da zeigen wir, was die Gäste bei uns erwartet. Wir machen das recht lutsig und spaßig. Ja, das reichen wie bei LEADER ein" usw usf. Diesen Kanal als Vermarktungskanal zu nutzen, das braucht eigentlich auch noch gar kein multifunktionales Lernzentrum, das braucht nur eine gute Inszenierung und einen gute Bandbreite, dass man mit einem iPad oder sonstigen tablet duch den Stall gehen kann oder durch die Scheune und man zeigt, wie der Hopfen für das Bier produziert wird oder so etwas. Das ist sicher eine starke Motivation gewesen. ˧

Ein Ausblick auf Globale Dörfer    

FN (Fortsetzung): Aber wieder möchte ich eine grundsätzliche Gegenposition beziehen oder was zu Bedenken geben. So sehr das auch im Moment verführerisch und auch sogar lebenswichtig sein mag, so sollte doch bedacht werden, wenn man sich das zu Ende gedacht denkt, ja, dann wird der Mensch in der Stadt überschwemmt von 10.000 ländlichen Tischler - Dörfern und es wird inflationiert oder von 100.000 lustigen Bauernhöfen, wenn man sich das extrapoliert denkt. Dann wird die Sache wieder fad werden und rasch ab-ebben. Das kann es nicht sein, das kann nicht der Sinn der Sache sein. ˧

Irgendwie muss man nicht jedes Mal die ganze Palette an Begeisterung, Ernüchterung und Katzenjammer durchmachen, die uns die Technik in so übergroßem Ausmaß beschert hat. Das schlägt irgendwann um in Frustration. Ich habe immer gesagt: Der wesentliche Impuls der Technologie wäre, dass man sich gute Sachen hereinholt und sie selber kopiert und einordnet und gruppiert, so dass man an ganz komplexer lokaler Mechanismus wird von vielen vielen Fertigkeiten und Fähigkeitn, für die man gar keinen Import und Export mehr braucht...oder wie der McLuhan gesagt hat: Wenn man sich die Globalisierung der Medien bis an die Spitze getrieben denkt, dann schlägt das irgendwann um in eine ungeheure Renaissance des Lokalen. ˧

HL: Das war jetzt ein bisschen abstrakt. Kannst du das ein bischen genauer erklären. ˧

FN: Na ja, das heißt, dass heutzutage kein Dorf mehr langfristig überleben kann, indem jeder Betrieb und jeder Hof für sich produziert und exportiert und Geld verdient und im Supermarkt einkauft usw. - ein Dorf wie wir es heute vorfinden, wenn es überhaupt noch produzierende Betrieb gibt, und nicht nur Pendler, die im Dorf schlafen. Wenn es vielleicht auch Touristen gibt, die kommen und Geld bringen. Und ich sage dagegen: das kann nicht die Zukunft des Dorfes sein, das ist vielmehr ein langsamer schleichender Tod. ˧

Die Zukunft des Dorfes müsste darin bestehen, die eigenen Potenziale für die eigene Bevölkerung so aufzubereiten, dass ein Vielfaches an Arbeitsteiligkeit oder abgesprochener Kooperation, Komplementarität zwischen den Leuten existiert, so wie wir das in der Stadt kennen, dass niemand für sich alleine produziert, sondern dass alle gemeinsam eine gemeinsame Infrastruktur nutzen, und einfach immer mehr Dinge des täglichen Bedarfs (wieder) vor Ort hergestellt werden können und immer mehr Probleme lokal gelöst werden können. Und Wissen ist dann auch ein Mittel, die eigenen Kapazitäten und Fähigkeiten und Fertigkeiten zu multiplizieren, nicht nur die Produkte, sondern auch die anderen Lebensbereiche, Soziales, Medizin, Gesundheit... ˧

Das ist für mich die Wahrheit dieses oben erwähnten McLuhan'schen Satzes, dass man sich über die Wissensglobalisierung vor Ort qualifiziert, der in einem komplexen Miteinander im Dorf sehr viele Dinge sehr viel besser zu liefern oder zu bieten vermag, und so quasi das Dorf zu einer Stadt im Kleinen wird, zu einem urbanen Interaktionsgeflecht. Krisenfest. Widerstandsfähig. Reich und großzügig. Und das geht dann parallel quasi in allen Dörfern im Netzwerk vor sich. Die Netzwerke vergrößern sich. Und am Schluss haben wir einen ganz anderen Planeten. ˧

Näheres zu Zukunfts - Lernorten    

HL: Ich kann mir vorstellen, dass sich in den nächsten 10 oder 20 Jahren zeigen wird, ob sich solche Visionen umsetzen lassen. Ich würde vielleicht doch den Bogen wieder zurück zum KB5 spannen wollen, weil da ein paar Themen liegen geblieben sind, über die wir noch reden sollten. Das eine habe ich vor kurzem angeschnitten, das war das Thema Multifunktionaler Lernort. Also wie ist dieses Gerichtsgebäude saniert worden, welchen funktionellen Elemente sind hinein gebaut worden, haben sie funktioniert, haben nicht funktioniert? Würde man heute dieses Gericht anders strukturuieren? Muss man überhaupt einen solchen multifunktionalen Lernort haben oder braucht es den gar nicht mehr? Kann da jeder Tischler in seiner Werkstatt oder jeder Bauer in seinem Stall Reality-Soap machen und hat sich dieses multifunktionale Lernzentrum überlebt? Das wäre ein großes Thema. Und ein zweites Thema, das in Bezug auf Kirchbach glaub ich schon eine wichtige Sache ist, und in Bezug auf die Village Innovation Talks, und auf diese angestrebte Skalierung: Ich hatte das Gefühl, dass ein Bild von Uwe Plachetka, den du genannt hast, auch irgendwie zutrifft, die Kirchbacher als das Gallische Dorf, das widerständige Gallische Dorf, das kämpft, gegen die Außenwelt, und das ganz etwas Besonderes ist, und wo es schwierig ist zu einer neuen Form von Gemeinschaft zu kommen, also eine Haltung zu erzielen wo man sagt: ok, also wir sind Kirchbach, aber wir gehen im Prinzip nur einen Schritt den anderen voraus. Das was wir machen, sollen andere auch machen, und wir wollen da in Gemeinschaft weiter gehen. Also, ich sah da ein Problem, sehe es immer noch, das "wir sind wir", also diese Alleinstellung, dieses Alleinstellungsmerkmal, die angestrebt wurden. Und wie man das überwinden kann, diese Ambivalenz, ein Pionier zu sein aber nicht allein bleiben zu wollen. Wie siehst du diese zwei Themen? ˧

FN: Ich sehe dies in der Tat auch für mich als die wichtigen Themen, und ich möchte sie zunächst auseinander halten, ein bisschen, weil sie in der Tat zwei verschiedene Fragestellungen sind. Also zunächst die Frage des multifunktonalen Lernortes. Hat er sich überholt? Angesicht der Ubiquität (Omnipräsenz, Allgegenwart) der Medien? Weil du überall skypen kannst, im trauten Kämmerlein und auf der grünen Wiese? Und ich sage, gerade nicht, weil der Lernort ja nicht nur ein Ort ist der Aneignung von Wissen oder der Kommunikation nach außen, sondern seine wesentliche Funktion ist ja eigentlich die Kommunikation nach innen. D. h. was sozusagen ganz essenziell ist, ist die Funktion "Begegnung". Wir haben schon 1998 in Partnerschaft mit den NÖ Dorferneuerung gesagt: Bildung und Begegnung – das ist die Rolle von Erwachsenbildung in der lokalen Entwicklung. Moralisches Copyright Karl Trischler. Es geht darum, dass man in dem Moment, wo neue Möglichkeiten aufpoppen, wo man durch dieses Wissen und diese geänderten Perspektiven vor Ort auch die Gelegenheit hat, miteinander sozusagen Ausmachungen zu treffen, ja, also mehr oder weniger: super, ja wir können das umsetzen, wenn du das machst und ich das mache, und schon entstehen komplentäre Lebenspläne, ..., das wäre für mich fast die Hauptfunktion diese multifunktionalen Lernortes, dass dieser Lernprozess nicht in einem abstrakten virtuellen Nirgendwo stattfindet, sondern wirklich so etwas konstituiert wie ein organisches lokales und vielleicht sogar regionales Miteinander, das immer perfektere Züge einer Kreislaufwirtschaft annnimmt. ˧

Ich muss immer wieder an den Professor Adalbert Melichar denken, der hat in Fischamend an der Donau seine Bücherei zu einem Lernzentrum ausgebaut. Da sind dann die Gemeinderäte aller Parteien gekommen und einer hat mal gesagt: es ist schon toll, was dieser Ort mit uns macht, drüben im Gemeindesaal kommen wir sofort ins Streiten, aber hier bei Dir kommen wir ins nachdenken, und wir erfahren immer Neues, das uns fast naturwüchsig in Gedanken an Kooperation bringt. Also, das heißt, dass man sagt: Ist das was für uns? Und, wenn ja, wie könne wir es umsetzen? Welche Rollen müssen wir da einnehmen? Was müssen wir beachten? Und sofort die Frage: Wer macht es und können wir hier unserer Jugend neue Chancen eröffnen. So in der Art... ˧

HL: ... ich kann mich erinnern, dass du in anderen Situation hierfür den Begriff "Kreatives Milieu" geprägt hast. Der genau diese Haltung, diese Offenheit für das Neue oder für die Entwicklung von Projekten widerspiegelt... ˧

FN: ... aber das sind zwei verschiedene Dinge ... ˧

HL: ... ich habe zuletzt in der Dissertation von Florian Heiler geblättert, der ja über Kirchbach viel geschrieben hat, und bin da auf einen schönen Begriff gestoßen, der mir gar nicht mehr präsent war, den der "Innovationsgemeinschaft" und von "Innovationsakteueren", sicher irgendwie abstrakt, aber doch sehr zutreffend. Also, wenn etwas gut funktioniert hat im KB5, oder sehr gut funktioniert hat, dann diese Gruppe von etwa einem Dutzend Leuten, die wirklich bereit waren jederzeit etwas Neues anzugehen, und Projekte gemeinsam zu machen, so wie du es beschrieben hast. ˧

FN: Ich bin tief davon überzeugt, dass ohne das KB5 in Kirchbach gar kein kreatives Milieu entstanden wäre. Das kreative Milieu ist vielleicht jetzt vom Multifunktionalen Lernort ein bisschen darin verschieden, das es nicht so ortsgebunden ist. Ein kreatives Milieu ist einfach eine rundumadum existierende Bereitschaft zu Lernen und Umzusetzen, und dann eröffnet – POP – plötzlich die Bio-Oase auf, oder das "Lebensdorf", oder der "Elektro-Fahrrad-Verleih". Kirchbach hat ein ungeheuer starkes kreatives Milieu bekommen, und ich glaube, dass das wirklich stark im KB5 wurzelt. Der Begriff Innovationsgemeinschaft klingt mir eine Spur, einen Hauch, nach einem verordneten, nach einem zugeschriebenen Rollenbild. Das Schöne an diesem Multifunktionalen Lernort und dem ihm umgebenden kreativen Milieu ist, dass es insbesondere für das Zweite keinerlei - wie soll ich sagen - formelle Vereinbarungen braucht. Man wird einfach spontan zu dieser Innovationsgemeinschaft, wenn man mit diesen Möglichkeiten konfrontiert ist, die aus dieser virtuellen Welt heraus purzeln ins lokale Publikum. Wir sehen ja auch, dass die traditionellen sektoralen Innovationszentren im ländlichen Raum nicht besonders gut funktionieren. Was schön wäre, wären tatsächlich “Innovationsgemeinschaften” im Sinn von Doug Engelbarts “bootstrap Communities”. Da sollten dann eben auch Forscher und Wissenschafter dabei sein, aber ein möglichst repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung ebenso. ˧

HL: Das ist natürlich ein Nachteil dieses Begriffs der Innovation, der so aufs technisch-wirtschaftliche fokussiert ist, heutzutage, den Florian Heiler allerdings auch anders gemeint hat. Also, er hat unter Innovation die Erneuerung, die ständige Selbsterneuerung des Lebendigen gemeint, also etwas, was viel universeller und flexibler ist, als diese technisch-wirtschaftliche Innovation... ˧

FN: Ich würde soweit gehen zu sagen: Wir müssen auch immer sofort auch den Gegenpol denken, um hier eine Ganzheit zu haben. Wir müssten eigentlich auch immer sofort an die Gedächtnisinstitutionen denken und sagen: Was haben wir? Wer sind wir? Was hält uns zusammen? Wo kommen wir her? Und das sozusagen nicht als reine Gegenpole sehen, sondern als Kraftquellen. Also, die Tradition und die Identität ist genauso wichtig, wie die Innovation. Die fokussieren sich wie Magnetnadel und Magnetfeld aufeinander, und dann wird Innovation auch nicht so leicht zur Destruktion oder wie es heute so gerne gesehen wird, wie heißt das Wort dafür? Disruption, oder so. Kreative Zerstörung. Wo das Zerstören von bestehenden Strukturen schon zu einem Wert an sich erhoben wird. Ich bin, genau wie du mit dem Begriff der Innovation nicht glücklich. Es bedarf eines Oberbegriffes, der Innovation und Tradition verbindet. ˧

HL: Ja. ˧

FN: Das ist einmal diese eine Antwort auf diese Frage: Ja, der multifunktionale Lernort ist ein valides Muster, das sich nicht überlebt hat, sondern das seine starken Zeiten noch gar nicht gesehen hat. Ich denke mir, das ist auch klar, denn wir hatten auch noch nicht sehr viele Angebote. Das ist wie Henne und Ei. Hätten wir hundert Dörfer mit pausenlos interessanten Entwicklungen und Erfindungen, dann würde so ein multifunktionaler Lernort jeden Tag ein total spannendes Programm für ein anderes Segment der lokalen Bevölkerung bieten können. Und nachdem es darauf ankommt, in diesen “Circulus Virtuosus” reinzukommen, in diesen Zirkel der Höherentwicklung, kann ich nur sagen: "We ain’t seen nothing yet." Und wenn es zum Beispiel gelingt diese - wie wir es derzeit nennen - Dorf-Uni zu schaffen, mit den OTELOS und all diesen Gemeinden, die sich anscheinend jetzt auch vermehrt interessieren... Wenn es uns gelingt, auch diese Zuschreibung von Themen erfolgreich mit großer Akzeptanz an die Dörfer heranzutragen, mit den 17 Nachhaltigkeitszielen, und wenn ich dann diese Wolke an relevantem Wissen habe, dann erst ist ein multifunktionaler Lernort plausibel. Weil der multifunktionale Lernort, wie vorhin gesagt, das Hauptthema hat: Wie setzen wir das alles hier bei uns zusammen? Wir können das nicht als Einzelner auf seinem Hof bewältigen. Wir müssen uns beim Lernen zusammen setzen... Aber wir müssen auch relevantes Wissen erhalten. Also am besten von anderen multifunktionalen Lernorten. ˧

HL: Natürlich kann man dann über einzelne Elemente eines solchen Lernortes diskutieren. Man kann sich die Frage stellen: ob es z. B. nett gewesen wäre, in so einem Zentrum einem Fabrikator zu haben, oder eine kleines Video-Studio, oder eine ausreichend ausgestattete Küche, wo man gemeinsam kochen oder eine Veranstaltung wirklich versorgen kann, und ob man auf manches, z. B. einen von den drei Seminarräumen nicht hätte verzichten können. Also, im Feintuning gäbe es schon eine Menge Erfahrungen und Ideen, was man diskutieren könnte, um ein solches multifunktionales Zentrum um die 10 Prozent effizienter zu machen, die vielleicht schlußendlich über Erfolg oder MIsserfolg entscheiden. ˧

FN: Ich möchte aber in die Debatte jetzt etwas werfen, was dieses Bild etwas erweitert. Wir haben ja nach wie vor im Hintergrund dieses Bedürfnis die Bildung alten Stils auch ins Dorf zu bringen. Sprich: Höhere Bildung verfügbar zu machen, auch außerhalb der Zentren. Wir haben uns ja gemeinsam in Osttirol dieses Problem schon einmal angeschaut. Aber ich hätte nicht erwartet, dass ich ins Salzkammergut fahren muss, um ein Muster kennen zu lernen, das wir in Osttirol gar nicht in seiner vollen Tragweite ausgeschöpft haben. In Ebensee gibt es einen aktiven jungen Mann, der ist eigentlich von Beruf Physiotherapeut, aber er ist ein ganz großer Visionär und Netzwerker, der auch mit Medien geschickt umgehen kann. Er hat auch mitgefilmt beim Kongress "Lebenswerte Gemeinde" in Salzburg im Odeon, er heißt Stefan Ledl, und der hat mich kurz nach dem Kongress in Wien in der Früh angerufen, ich muss nach Ebensee kommen, ich muss die DorfUni realisieren. Und ich hab gesagt: Was wollt ihr denn realisieren. Und er sagt: Ja, wir wollen diesen tiefen Traum der Dorf-Uni, sozusagen den Traum des Franz Steinwender "im Dorf studieren zu können", den der Franz dann als Pensionist quasi für sich individuell mit Fernuniversitäten fertig geträumt hat, wir wollen den umsetzen. Und als ich dann in Ebensee war und wir das tiefer diskutiert haben, hat er dann dieses Modell vor mir ausgebreitet und ich war plötzlich wie von den Socken, weil er hat wieder eine Innovation in die Debatte geworfen, die wir gar nicht bis jetzt noch ins Auge gefasst haben. Er hat gesagt, wenn es uns gelingt mit Orten wie Bad Ischl, und was da halt so rundherum ist, vielleicht auch Gmunden, jedenfalls Orte die in einer maximalen Distanz von 25km sind, und die eine geographisch koheränte Region bilden, wenn es gelingt in jeder Gemeinde so etwas zu machen wie ein Fakultätsgebäude, und wenn es gelingt in diesen Fakultätsgebäuden wirklich Angeboten aus dieser Fachrichtung rein zu kriegen, dann können wir, wenn wir diese Orte mit Elektromobilität verbinden, dann können wir ganze Studien zusammen setzen und die Studenten könnten quasi bei uns in der Region komplexe Studiengänge machen, und an verschiedenen Orte auch verschiedene Themen kombinieren, also eigentlich eine völlig neue Form die Universität dezentral in eine Region zu setzen. Er hat gesagt, wir schaffen pro Dorf sicher nicht mehr als maximal so etwas wie ein Fakultätsgebäude, aber wir würden dadurch natürlich, weil wir eine Zusammenarbeit der Dörfer von Anfang an in dieses Konzept einbauen und nicht, wie du vorher gesagt hast – Gallisches Dorf und Alleinstellungsmerkmal und 'wir sind wir' und uns darauf versteifen, dass wir etwas ganz besonderes sind – wir würden die Grundlage schaffen für so etwas wie eine Wirtschaftsstruktur, die dann das Gelernte auch umzusetzen erlaubt. ˧

Das war für mich eine völlig neue Dimension, die in dieser Radikalität wir noch nicht gedacht haben, wo der multifunktionale Lernort unter Umständen auch ergänzt wird durch einen spezialisierten Lernort, und der aber vielleicht wiederum ergänzt werden kann durch spezialisierte Add-Ons in der jeweiligen Gemeinde die mit der jeweiligen Fachrichtung auch zu tun hat, und schnell landen wir wieder bei komplementären Themndörfern, die sich als ein interessantes Muster von urbaner Sophistication im ländlichen Raum auch abseits von Mittelstädten möglicherweise herausbilden können. Und dann würd auch der Peter Mayer wieder recht bekommen, der die benachbarten Globalen Dörfer damals besonders ins Spiel gebracht hat. ˧

HL: Ja, das klingt wirklich sehr spannend. Auch das Stichwort "komplementäre Themendörfer" öffnet eine Menge neuer Möglichkeiten. ˧

FN: Ich sag, hätte der Peter Mayer das damals so formuliert, dann wäre uns damals viel mehr gelungen. Komplementäre Themendörfer in der Kleinregion-Kirchbach-Zerlach, das wäre es gewesen. Oder besser: man kann immer noch damit anfangen. ˧

HL: Ja, es ist merkwürdig, wie sehr die Sprache das eigene Handeln limitiert, und wie sehr das richtige Wort auch Türen öffnen kann. Man sieht jedenfalls, wie sprechen jetzt etwa eine Stunde, dass es gelungen ist einen Bogen zu spannen, der 10 bis 15 Jahre überstreicht, und wo man auch die Kontinuität der Entwicklung und die Mühsamkeit der Entwicklungsschritte ein bisschen nachvollziehen kann, das Pionierhafte und das nach wie vor Werthaltige, dessen was in Kirchbach und in deinem Kopf und Umfeld passiert ist, deutlich machen kann. Eine Entwicklung, ein wirklich evolutionärer Entwicklungsprozess, den es Wert ist weiterzugehen. Und wo ich ja sehe, dass du jetzt in Bad Radkersburg alle Rahmenbedingungen schaffst, um das Ganze auf eine neue Stufe zu heben. Es wäre schön auch darüber noch etwas zu erfahren, aber ich glaube, wir müssen diese große Thema zu einer anderen Gelegenheit aufmachen, denn für heute ist die Zeit abgelaufen, und wir würden dabei das Thema Kirchbach und KB5 zu sehr verlassen. Ich danke dir deshalb an dieser Stelle für das Gespräch und die reichhaltigen Einblicke und für den grundlegenden Beitrag, den du in Kirchbach und für das KB5, und damit für Regionalentwicklung schlechthin geleistet hast. ˧

FN: Ich danke meinerseits, dass Du mir die Gelegenheit gegeben hast, diese Überlegungen mal ein wenig im Zusammenhang zu bringen, und dass Du nicht locker lassen wirst, bis es veröffentlicht ist. ˧


Ordner Interviews ˧

GIVE Forschungsgesellschaft matzer der Versicherungsmakler Gemeinde Kirchbach-Zerlach